Sportvereine im Wandel
Der Ehrenpräsident des Deutschen Olympischen Sportbundes, Manfred Freiherr von Richthofen, wird mit der folgenden Aussage zitiert: "Unternehmen ändern ihre Konzepte oft im Jahrestakt, Vereine verbleiben Jahrzehnte in ihren Strukturen." Hat er recht ? - Ich bin mir da nicht sicher.
Wirtschaftsunternehmen ändern ihre Konzepte - und landen trotzdem in der Insolvenz. Also ist Änderung keine Garantie für Erfolg. Für mich wird das genannte Zitat noch problematischer, wenn zeitgleich der ehemalige Deutsche Sportbund Kampagnen der Öffentlichkeit präsentierte wie "Sport ist im Verein am schönsten" oder "Sport tut Deutschland gut". Was stimmt denn nun? Arbeiten unsere Vereine schlecht oder doch vielleicht kundenorientiert? Was ist mit dem Sport in unserer Gesellschaft?
Wir leben gegenwärtig in einer Wendezeit des Sports. Sport ist zu einer gesellschaftlichen Bewegung geworden und hat damit auch Verpflichtungen für die Gesellschaft übernommen. Gleichzeitig wird er selber von einer neuen Unübersichtlichkeit geprägt.
Unsere Gesellschaft steckt in einem Versportlichungsprozeß von einem bisher nicht gekannten Ausmaß und einer bisher nur bedingt bemerkten Dynamik.
Ein Minister in Turnschuhen bei seiner Vereidigung machte eine ganze Turnschuhgeneration "parlamentsreif" - das war "vorgestern".
Ein Bischof, der mit seinen Geistlichen gemeinsam Ski läuft, verunsichert seine Landeskirche - das war "gestern" anlässlich eines Seminars der Evangelischen Kirche in Deutschland in der Nähe von St. Moritz.
Der Papst beruft einen Vertreter des Sports, Prof. Norbert Müller, in ein Laiengremium beim Heiligen Stuhl, das ist "heute".
Welche Gesellschaft ist das, in der dieser Sport mit seinen Vereinen angesiedelt ist?
Ich will versuchen, die Kernbereiche der gesellschaftlichen Entwicklungen in ihrer Auswirkung auf den Sport an sechs Beobachtungen festzumachen:
- Die moderne Gesellschaft bildet immer mehr Teilbereiche, die sich verselbständigen. Gesellschaftliche Teilbereiche , die sich in diesem Prozeß nicht an veränderte Bedürfnisse anpassen, verlieren ihre Bedeutung und werde durch neue ersetzt.
Das gilt auch für die Sportorganisation: Die Schere zwischen dem Wunsch, seinen Sport zu treiben, und dem Angebotssystem der Sportorganisation scheint sich zu öffnen. Damit beginnt der Sportverein seine Identität zu verlieren und wird austauschbar. - Die Folge dieser zunehmenden gesellschaftlichen Ausdifferenzierung ist ein sich ausweitender Pluralismus. Selbst die politische Landschaft beginnt sich aufzulösen.
Auf einmal stehen mehrere Wertesysteme oder Werteorientierungen gleichberechtigt nebeneinander. Die Orientierung wird immer schwieriger, was z.B. dumpfe Ideologien wie Rechtsradikalismus oder heilversprechende Sekten begünstigt.
Auch im Sport geht die Eindeutigkeit verloren. Verschiedene Orientierungen stehen nicht mehr nebeneinander, sondern befinden sich teilweise in Konfrontation, Polarisierung scheint angesagt: Spitzensport, Leistungssport, Breitensport, Gesundheitssport - sie haben nur wenig mehr gemeinsam, zumindest wird es immer schwieriger, den Restbestand an Gemeinsamkeit auszumachen. Das hat Auswirkung auf die Sportorganisation. - Eine moderne, ausdifferenzierte Gesellschaft produziert ein Übermaß an Möglichkeiten, die über ein existenznotwendiges Maß hinausgehen. Das erhöht die Gefahr, sich zu verzetteln und alles ein bißchen auszuprobieren.
Die Angebotsvielfalt im Sport nimmt zu, damit geht die Orientierung verloren und die Bindungsfunktion läßt nach.
Der vereinsorganisierte Sport muß erkennen, daß es erwerbswirtschaftliche Sportanbieter auf dem Markt gibt und er sich in einer Konkurrenzsituation zu befinden scheint. M.E. zwingt dieses dazu, wegzukommen von einer Abgrenzungsstrategie der Sportorganisation gegenüber erwerbswirtschaftlichen Sportanbietern und im Gegensatz dazu Formen der Kooperation zu entwickeln in der gemeinsamen Aufgabe, Sport für alle Bürgerinnen und Bürger und deren Interessen anzubieten.
Der " runde Tisch der Sportanbieter " in einer Kommune, Vernetzung ist angesagt. - Die zunehmende Ausdifferenzierung bedeutet eine Zunahme der Zahl von Einzelgruppen und damit immer mehr Gruppeninteressen. Egoismen und die Durchsetzung von Eigeninteressen bestimmen zunehmend die Szene.
Vor diesem Hintergrund wird der Sport immer mehr zu einem Dienstleistungssektor, in dem wie in einem Supermarkt Leistungen eingekauft werden. Die Übernahme von ehrenamtlichen Aufgaben scheint sich zu erübrigen, da man mit dem Entrichten eines Entgeltes - dem Beitrag - sich von weiteren Verpflichtungen freigekauft zu haben glaubt. - Die Sportentwicklung ist in Gefahr, an den nicht mehr vorhandenen Bewegungsräumen und in der Zahl zu geringen oder nicht mehr bedarfsorientierten Sportstätten zu scheitern. Die finanziellen Probleme der Kommunen führen dazu, dass der Bestand der Übungsstätten deutlich an Qualität verliert. Damit wird die Qualität des Vereinsangebots zunehmend abgewertet, kommerzielle Sportanbieter erhöhen ihre Attraktivität.
Die natürlichen Bewegungsräume auf Straßen und Plätzen sind für unsere Kids verloren gegangen, das Wohnumfeld wird zunehmend bewegungsfeindlich gestaltet.
Wir brauchen bewegungsfreundliche Städte. Zum Glück haben Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene von sich aus begonnen, den öffentlichen Raum für Bewegung zurückzuerobern: Skaten, Kickboarden, Streetbasketball, Stadtmarathon - das sind nur Beispiele. - Die Gesellschaft unterliegt einem gravierenden demografischen Wandel. Die Menschen in Deutschland werden weniger und immer älter, die Gesellschaft wird internationaler und weiblicher, die Menschen werden ärmer und dicker Themen der nahen Zukunft lassen sich zuspitzen auf die Schlagworte "Seniorentreff statt Kindergärten" oder "Spielzeugläden raus - Orthopädiebedarf rein". Auf einmal taucht die Idee von "Senioren-Spielplätzen" auf - was auch immer das sein soll.
An dieser Stelle sei die Frage erlaubt, welche Rolle Sportvereine in dieser sich wandelnden Gesellschaft spielen und welche sie einnehmen wollen, bei einem sich zunehmend ändernden Sportverständnis.
Kann der Sportverein, so wie er sich heute positioniert, den Anforderungen des Sports überhaupt noch gerecht werden? Welchen Sport hat er denn zu vertreten? Für welche Menschen organisiert er sein Angebot? Denkt er überhaupt darüber nach?
Ich benutze hier einen Strukturierungsvorschlag, den Dieter Jütting (Münster) vor geraumer Zeit unterbreitet hat:
Er spricht vom
- Profisport
- medialen Sport
- alltagskulturellen Sport.
Der Profisport und seine Sportler erwarten eine "professionelle" Betreuung und Organisation. Die Arbeit wird zunehmend aus dem Regelverein herausgenommen und auf wenige Schwerpunkte konzentriert. Dort erfolgen Beratung, soziale und medizinische Betreuung, Training und anderes. Der Sportverein, so wie wir ihn kennen, hat in diesem Bereich seine Funktion zunehmend oder ganz verloren.
Es gibt immer weniger Vereine, die diesen Sport noch auffangen wollen und können - und wenn sie es tun, haben sie sich ganz neue Strukturen geschaffen.
Der Spitzensport/Profisport bleibt in der Großzahl der Beispielfälle aus dem Regelverein ausgeschlossen und entwickelt eine Eigendynamik, bildet ein Subsystem mit der Gefahr, die Organisation des Sports aufzubrechen.
Der mediale Sport öffnet die Grenzen der Sportorganisation. Hier dient der Sport dazu, eigentlich andere Ziele zu verfolgen als solche, die dem Sport vonseiner Grundidee her immanent sind.
Sport wirkt als dynamisches Moment für soziale, präventive, rehabilitative Zwecke, Sport wird instrumentalisiert: Sport bei Diabetes, Sport mit Migranten, Sport nach Herzinfarkt, Sport mit übergewichtigen Kindern und - und - und.
Der Sport und der Sportverein müssen sehr wohl abwägen, wie weit sie jegliche an sie herangetragene Aufgabe zu übernehmen imstande sind und übernehmen wollen, ohne die eigentliche Idee der Sportorganisation aus den Augen zu verlieren. Vereinsbemühungen in diesem Feld begründen sich häufig darin, dass die Verantwortlichen glauben, neue Geldquellen erschließen oder sich vermeintlicher Konkurrenten erwehren zu können.
Der alltagskulturelle Sport ist das ursprüngliche Feld der Betätigung der Sportvereine. Sein Sinn liegt im Sporttreiben selber. Sport wirkt hier als integrierendes Element der Lebensführung in allen Lebensaltersstufen und auf allen Könnensstufen. Hier verbinden sich Sporttreiben mit Geselligkeit, hier hat natürlich auch der Wettkampfsport seinen Platz. Die Organisation des Sporttreibens erfolgt in diesem Bereich nach dem Muster einer kommunikativen Gesellschaft und in wechselseitiger Hilfe.
Der Sportverein ist eben nicht nur ein Ort, wo Bewegung und Spiel, Gesundheit und Lebenskultur tradiert werden, sondern er ist auch ein Ort, wo Gemeinsinn und Solidarität gelebt, erzeugt und eingeübt werden. Der Sportverein ist ein Ort belastbarer Solidarität in einer Gesellschaft, die auseinander zu driften droht. Die Sportorganisation und ihre Vereine müssen erkennen, dass
- die Sportorganisation kein Monopol auf Sport hat,
- die kommerziellen Sportanbieter nicht in jedem Fall eine Konkurrenz sind,
- die Idee des Sportvereins einen Eigenwert für sich darstellt,
- die Wachstumsideologie der Sportorganisation nicht unbedingt akzeptiert werden muss,
- die Qualität des Sportangebots ein höherer Wert ist als die Zahl der Mitglieder, Qualität geht vor Quantität.
Sportvereine haben sich als eine Bürgerinitiative bewährt, die mit öffentlicher Unterstützung einen erheblichen Beitrag zum sozialen Leben der Menschen beiträgt:
- Die Spiel- und Bewegungsangebote der Sportvereine bilden die Grundversorgung der Bevölkerung mit Bewegung für alle Bevölkerungsgruppen zu sozial angemessenen Beiträgen. Sie bieten keine gewinnträchtige Luxusware.
- Durch ihre lebensbegleitenden Angebote tragen die Sportvereine in erheblichem Maße zur Gesundheitsförderung in der Bevölkerung bei. Sie leisten damit einen aktiven Beitrag zur Kosteneinsparung im Gesundheitswesen.
- Die Angebotsstruktur der Sportvereine ist Bestandteil der sozialen und gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Menschen vor Ort. Sie ist ein Stück Lebensqualität in der Kommune.
- Sportvereine setzen mit ihren Betreuungsangeboten in der heutigen individualisierten Gesellschaft Akzente als "Lebenswelt sozialer Erfahrungen": Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene erleben, erfahren und erlernen Gemeinschaft und soziale Verantwortung.
- Sportvereine vor Ort bilden mit ihrer Jugendarbeit die Basis für die leistungssportliche Entwicklung der jungen Athletinnen und Athleten, sie schaffen damit die Voraussetzung für leistungssportliche Erfolge der Verbände bis hin zu internationalen Ebenen. Dieses wird vielfach in den Spitzenverbänden nicht mehr so deutlich gesehen und anerkannt. Eine Orientierung an Stützpunktsystemen verstellt zunehmend den Blick auf diese großartige Leistung der Sportvereine vor Ort.
Dass dieses alles überhaupt möglich ist, hat seinen Urgrund in der freiwilligen und ehrenamtlichen Leistung der Mitglieder in den Vereinen und Verbänden. Wir brauchen mehr denn je den Sportverein als ein Lernfeld solidarischen Handelns, als einen Treffpunkt der Generationen, als einen Ort der Begegnung aller Bevölkerungsschichten. Der Sportverein übernimmt zunehmend die Funktion eines Schutzraumes, einer kleinen Lebenswelt. Wer diese nicht aufbaut und lebensfähig hält, dem droht psychische Obdachlosigkeit, die ebenso bedrohlich ist wie andere Formen der Obdachlosigkeit.
Sportvereine sind nach meiner Einschätzung Orte in unserer Gesellschaft, in denen ein hohes Maß an Leistung für diese Gesellschaft erbracht wird. Daher ist es dringend erforderlich, dem Sportverein mit seinen Ehrenamtlichen mit absoluter Priorität seine Überlebenschancen zu sichern. Der demokratische Staat muss von seinen Bürgerinnen und Bürgern ein hohes Maß an Eigenständigkeit und Selbstverantwortung erwarten und auch verlangen. Tut er dieses nicht, mißachtet er die Selbständigkeit seiner Bürgerinnen und Bürger und beraubt sich so seiner Fundamente.
Freie Gesellschaften fördern das Engagement des Einzelnen, ja - sie setzen es sogar voraus, weil sie anders nicht lebensfähig wären. Damit bekommt das ehrenamtliche Engagement eine für die Gesellschaft besondere Bedeutung.
Das ehrenamtliche Engagement vieler Menschen im Sport und in anderen gesellschaftlichen Bereichen fördert den Zusammenhalt in einer Gesellschaft, die sich als Einheit aufzulösen droht.
Ehrenamtliche Mitarbeit ist ein konstitutives Element der freien Sportorganisation, aber nicht nur dieser, sondern auch weiterer gesellschaftlicher Gruppen, wie z.B. der freien Wohlfahrtsverbände, der Kirchen, der Gewerkschaften und auch der Parteien.
Weil das so ist, fordere ich alle diese Organisationen auf, sich zur Unterstützung des Ehrenamts in unserer Gesellschaft zu einer großen Lobby, zu einer großen Vereinigung der "Freiwilligen" zusammenzuschließen. Hier ist Kooperation angesagt, hier geht es um das Wohl und den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. "Vernetzung" des Ehrenamts mag das Ziel sein.
An dieser Stelle muß aber auch ganz besonders hervorgehoben werden, daß ehrenamtliches Engagement einen ganz persönlichen Zugewinn an Erlebnissen, Kompetenzen und Werten beinhaltet für den oder die, die sich ehrenamtlich engagieren:
- Ehrenamtliches Engagement trägt seinen Sinn in sich und stellt für den Einzelnen einen Wert ganz besonderer Art dar!
- Ehrenamtliche führen ein erfülltes Leben!
- Ehrenamtliches Engagement macht die eigene Person stark!
- Ehrenamtliches Engagement macht Spaß!
Doch dürfen wir nicht die Augen verschließen vor einem sich abzeichnenden veränderten Selbstverständnis der Ehrenamtlichen selber. Eine Befragung Ehrenamtlicher im Sport hat ergeben, daß diese für sich eher die Bezeichnung "Freiwilligenarbeit" und "Freiwillige" beanspruchen als die etwas überholte Begrifflichkeit "Ehrenamt".
Freiwilligenarbeit ist die Kennzeichnung einer Mitarbeitsform, bei der Menschen frei, pragmatisch, aus Lust und Laune, aus Kontakt- und Selbstverwirklichungsgründen mitwirken. Sie wollen sich keiner Idee oder grundsätzlichen Botschaft unterwerfen. Freiwilligenarbeit setzt auf Unabhängigkeit und Autonomie der sich engagierenden Personen. Wenn nun im Sport zunehmend dieser Begriff der "Freiwilligenarbeit" auftaucht und von den Betroffenen auch gewünscht ist, kennzeichnet das auch das Aufbrechen einer tradierten Idee der Sportorganisation. Die Strukturen sind nicht mehr fest. Dieser Begriffswandel kennzeichnet einen Wandel der Motivation und Erwartung der Ehrenamtlichen. Der Gedanke des Tausches taucht auf, also des Engagements mit Rückerstattung, einer wie auch immer gearteten Gratifikation.
Ehrenamt im Jahr 2010 ist etwas anders als im Jahr 1900. Das Selbstverständnis der Freiwilligen hat sich gewandelt, nicht aber deren Engagement.
Eines steht auch für die Zukunft fest: Die Sportentwicklung der nächsten Jahre wird entscheidend davon abhängen, ob es gelingt, nachhaltig die notwendige Zahl an qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu gewährleisten, unabhängig davon, ob es sich um bezahlte oder ehrenamtlich tätige Personen handelt. Der Sport wird in der Zukunft vermehrt auf bezahlte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zurückgreifen. Dieses ergibt sich als Notwendigkeit aus den immer steigenden Ansprüchen an diesen Personenkreis. Bezahlte Mitarbeit - das will ich hier ganz klar herausstellen - bedeutet nicht die Abschaffung des Prinzips der Ehrenamtlichkeit im Sport, es bedeutet Entlastung der Ehrenamtlichen und damit eine Steigerung der Motivation. Das heißt aber auch, dafür Sorge zu tragen, daß die Qualifizierung der Mitarbeiterschaft auf hohem Niveau und auf den wirklichen Bedarf bezogen erfolgt.
Man muss kein Prophet sein, um zu der Feststellung zu kommen, daß die Zukunft des Sports stärker von ideellen Problemen bestimmt sein wird als von den materiellen.
Die Fragen der ethischen und moralischen Sinngebung und einer identitätsstiftenden Standortbeschreibung werden unsere Diskussionen mehr ausfüllen als die Suche nach den materiellen Grundlagen des Sports. Damit wird eine Wertediskussion im Sport immer drängender.
Zu diesen zentralen Zukunftsfragen des Sport wird das Feld der Bildung gehören. Die Aus- und Weiterbildung - die Bildungsarbeit des Sports - sichert den gesellschaftlichen Anspruch des Sports.
Kein Politiker beginnt derzeit sein politisches Tagesgeschäft, ohne auf den besonderen Stellenwert der Bildung hinzuweisen.
Das Feld Sport bleibt in diesen Stellungnahmen in aller Regel unberücksichtigt.
Sport ist demnach kein Bildungselement.
Es liegt jetzt am Sport, seine Bildungsarbeit und sein Bildungsverständnis gegenüber der Gesellschaft deutlich und nachhaltig zu präsentieren.
Gerade die Diskussion um die Ganztagsschule macht deutlich, wie der Sport in der Bildungsdiskussion angesiedelt wird. Wenn die Ganztagsschule die Rettung der Bildungsmisere nach der PISA-Studie sein soll , dann muss doch die zweite Hälfte der Tagesschulzeit Schule sein.
Ganztagsschule heißt nicht, Schule am Vormittag und Beschäftigung am Nachmittag. Hier wird der Sport erneut instrumentalisiert: Kinder werden abgeliefert: "Du Sport beschäftige diese". Das ist nicht Ganztagsschule!
Gerade die Diskussion um die Schule im Ganztag signalisiert Probleme aber auch Chancen und Möglichkeiten für die zukünftige Entwicklung des Jugend- und Nachwuchssports unserer Vereine.
Perspektiven der Sportvereine
Welche Prognosen lassen sich nun in der Tat für den Sportverein und damit auch für Rudervereine im Blick auf die Zukunft aufstellen? Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?
- Der Sportverein wird sich auch in der Zukunft neben anderen Sportanbietern behaupten, auch wenn die Zahl kommerzieller Sportanbieter deutlich zugenommen hat und weiter zunimmt. Die Tatsache aber, dass bereits heute immer mehr Vereinsmitglieder auch Kunden von Fitnessstudios sind, signalisiert drastisch die Defizite von Vereinsangeboten. Dagegen haben zunehmend Vereine eigene Fitnessangebote in der Form von Trainingsräumen, sprich "Studios", eingerichtet.
Insbesondere ergeben sich für Rudervereine mit ihren Hantel- und Ergoräumen gute Angebotsmöglichkeiten. Allerdings sollten diese Räume eine einladende und freundliche Atmosphäre ausstrahlen. Fitnesstraining macht Spaß, die Umgebung spielt da eine wichtige Rolle.
Das vereinseigene Fitnessstudio eines Rudervereins im Sinne eines ausgegliederten Wirtschaftbetriebes muss darüber hinaus kein Einzelfall bleiben. - Der Sportverein wird auch weiterhin eine freiwillige Vereinigung sein, in der die Mitglieder in erster Linie sich selber helfen, darüber hinaus aber auch freiwillig "öffentliche" Aufgaben übernehmen.
- So wie es nicht den Sport gibt, wird es auch nicht den Sportverein geben. Jeder Verein wird an seinem Standort seine Lösung suchen, d.h. er unterbreitet sein Angebot auf der Grundlage immer wieder aktualisierter "Markt-/Bedarfsanalysen". Rudervereine haben ein attraktives Sportangebot zu bieten auf einem meist eigenen Vereinsgelände, das gilt es zu kommunizieren.
- Der Spitzensport wird zunehmend aus dem Regelverein ausgegliedert werden und in entsprechenden Spezialvereinen oder Stützpunkten organisiert.
- Vereine werden versuchen, größere Systeme zu entwickeln, dadurch mehr Mitglieder zu haben. Sie vergrößern so ihren finanziellen Rückhalt und die gesellschaftliche Reputanz. Die Ausstrahlung in die Kommune steigert das Ansehen: der Rudererball als gesellschaftlicher Höhepunkt in einer Kommune, das Sommerfest am Bootshaus können zu gesellschaftlichen Highlights in der Region werden.
- Daneben wird es dennoch zunehmend kleine Vereine geben, in deren überschaubarer Struktur Mitglieder hinreichend "soziale Arrangements" vorfinden. Ein Ruderverein kann eine Heimat sein für seine Mitglieder. Voraussetzung dafür ist es, dass der Verein, es schafft, ein "Wir"-Gefühl zu entwickeln. Die Ruderbundesliga (RBL) ist z. B. ein wunderschönes Instrument, diese "Heimatlichkeit" zu erzeugen. Wanderfahrten oder ähnliche sportartbezogene Aktivitäten, über die in der heimischen Presse berichtet wird, erfüllen den gleichen Zweck.
Das Ziel ist es, über die Aktivitäten des Rudervereins die Mitglieder auf das Geschehen des Vereins - auch emotional - einzuschwören. Die Identifikation mit dem Verein - das schafft Sicherheit und Zusammenhalt. "Das ist mein Verein - ich bin dort Mitglied." Es mag dann ein wenig Stolz mitschwingen oder auch das Gefühl, man müsse dort Mitglied sein, um gesellschaftlich dazu zu gehören.
Das positive Ansehen eines Vereins kann darüber hinaus dazu führen, dass es leichter wird, Personen für die Mitarbeit zu gewinnen. - Vereine werden ihr Angebot in der Zukunft stärker auf bestimmte Zielgruppen hin ausrichten, hier kann die Familie eine größere Bedeutung gewinnen. Der Ruderverein als Familiensportverein, das bietet sich geradezu an.
Die demografische Entwicklung in unserer Bevölkerung lenkt den Blick auf Ältere, die stärker in das Geschehen eines Rudervereins eingebunden werden sollten. Die Wanderfahrt auf der Mosel im Herbst als fester Bestandteil des Vereinsangebots für die älteren Vereinsmitglieder wie auch Gäste.
Die Teilnahme an Regatten der Masters verlockt zu neuen, wieder entdeckten Ruderaktivitäten. Das Bouleturnier auf dem Vereinsgelände ... es gibt viele Möglichkeiten. - Vereine werden stärker auf bezahltes und berufliches Personal zurückgreifen oder/und bestimmte Arbeitsabläufe outsourcen. Ehrenamtliches Engagement wird zunehmend von bezahlter Zuarbeit unterstützt. Hier stellen die von der öffentlichen Hand unterstützten Programme eine Hilfe dar, von der auch mehrere Rudervereine bereits Gebrauch machen. So eröffnen das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ) und der Bundesfreiwilligendienst (BFD) neue Möglichkeiten, nachdem der Zivildienst entfallen ist. Das Freiwillige Soziale Jahr richtet sich da an junge Menschen im Alter bis zu 27 Jahren, während der Bundesfreiwilligendienst im Alter unbegrenzt ist. Nur, die Vereine müssen von diesen Möglichkeiten hinreichend in Kenntnis gesetzt werden aber sich auch selber um entsprechende Informationen bemühen.
- Vereine werden sich verstärkt bürotechnischer Hilfen bedienen, um ihre Verwaltungsarbeit erträglich und effektiv zu gestalten - Office-Management in Sportvereinen. Der Deutsche Ruderverband bietet über sein Verwaltungsportal in Teilbereichen bereits entsprechende Hilfen an. Dieses Projekt ist ausbaufähig. Zusätzlich bieten die meisten Landessportbünde auf diesem Feld Hilfen an.
- Vereine werden versuchen, für bestimmte Aufgaben mit anderen Vereinen oder Einrichtungen zu kooperieren, dieses nicht nur, um die Zahl der Mitglieder zu erhöhen, sondern auch, um das Vereinsangebot für die Mitglieder zu vergrößern und zudem bestimmte Verwaltungsabwicklungen gemeinsam effizienter zu gestalten. Da wird dann auf einmal in einen Zaun zwischen einem Ruderverein und einem benachbarten Schwimmverein ein Tor eingesetzt und so freie wechselseitige Zugangsmöglichkeit geschaffen.
- Übergeordnete Strukturen der Sportorganisation - z.B. Stadt-und Kreissportbünde oder Landessportbünde, Landesruderverbände wie auch der Deutsche Ruderverband - werden eine viel stärkere Servicefunktion gegenüber den Vereinen entwickeln, als es ihnen bislang überhaupt bewusst ist und als Aufgabe wahrgenommen wird. Verbände und Bünde sind Dienstleister und Interessenvertreter für ihre Vereine. Das Ressort Vereine/Vereinsentwicklung hat eine immens wichtige Funktion im System DRV, dieses auch vor dem Hintergrund, dass der DRV ein Verband der Vereine ist.
- Vereine werden weitere Formen entwickeln, die dem einzelnen Interessenten den Zugang zum Sporttreiben und zu einer Vereinsmitgliedschaft erleichtern, Gastmitgliedschaften, Kursangebote, Probemitgliedschaft. Hier fallen im Moment Modellmitgliedschaften zwischen Schulen und Sportvereinen als Folge der "Schule im Ganztag" ins Auge. Diese sollten der DRV wie auch die DRJ als Hilfen für Rudervereine kommunizieren. Vielleicht ist es auch wert, die aus Tradition gewachsene Idee des Schülerrudervereins oder der Schülerruderriege stärker zu aktivieren.
- Vereine und ihre übergeordneten Organisationen werden gezielt und deutlich stärker dafür Sorge tragen, dass ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf ihre Aufgabe hin geschult und laufend fortgebildet werden. Zu einem solchen Bildungssystem gehört als fester Bestandteil in der Vereins- und Verbandsführung eine dauerhaft angelegte Personalplanung. Personalentwicklung als Instrument der Führung eines zukunftsorientierten Vereins. Vereinsinterne Mitarbeiterfortbildungen, u.U. auf lokaler Ebene in Kooperation mit Nachbarschaftsvereinen, sind hilfreiche Instrumente der Vereinsarbeit.
Es muss deutlich werden, dass Qualifizierung und Fortbildung für das Engagement Hilfe und auch Belohnung sind für die Betroffenen. - Vereine müssen stärker Partnerschaften und Vernetzungen mit Schulen anstreben, dieses nicht nur im Verfolg der Strukturen "Schule im Ganztag".
Konsequenzen
Den Vereinen ist zu empfehlen, für die Zukunft die Überlegungen über die Vereinsentwicklung und zur Philosophie des Handelns zu einer ständigen Aufgabe zu machen. Eine dauerhafte Reflexion der Führungsstruktur hilft, Fehler frühzeitig zu erkennen und Wege der Korrektur einzuleiten.
Vereine müssen dabei dafür Sorge tragen, dass sie die Mitglieder in die Diskussion über das Selbstverständnis des Vereins aktiv einbeziehen .Das Leitbild des Deutschen Ruderverbandes kann und sollte hier Vorbild und Grundlage vereinsbezogener Überlegungen sein.
Vereine müssen ihr Vereinsprofil erkennbar herausarbeiten. Dazu gehören die Festlegung der Ziele, Angebote und Leistungen. Dieses Profil muss in der Öffentlichkeit angemessen dargestellt werden.
Vereine müssen ihr Angebot auf der Grundlage einer Bedürfnisermittlung und Bedarfsermittlung entwickeln. "Marktanalyse" in der eigenen "Kundschaft" - sprich bei den eigenen Mitgliedern - aber auch, und da besonders, im Umfeld des Vereins. Das Angebot eines Rudervereins ist vielfach das Ergebnis der Interessen der Übungsleiterinnen und Übungsleiter und auch der Vorstandsmitglieder, - aber auch die Mitglieder selber haben Wünsche.
Eine besondere Bedeutung für die Effizienz der Vereinsarbeit hat eine funktionierende Kommunikationsstruktur. Die Kommunikation nach innen dient der Information der Vereinsmitglieder über das Geschehen innerhalb des Vereins. Regattatermine, Veranstaltungen, besondere Ereignisse - all das dient der stärkeren Bindung der Mitglieder an den Verein.
Kommunikation nach außen hilft, die Aufmerksamkeit auf den Verein zu lenken. Eine Regatta oder ein Wettkampf, über die in Medien nicht berichtet wird, haben nicht stattgefunden - so eine alte Erkenntnis. Es liegt an den Verantwortlichen im Verein, die Medien zu informieren, kurze Texte vorzulegen als Anregung u.a.
Dabei kommt der Vorgehensweise bei der Gestaltung der Kommunikation, sowohl nach innen wie auch nach außen, eine besondere Bedeutung zu. Der Schaukasten vor dem Bootshaus hängt zwar noch, aber seine Funktion ist sehr stark reduziert. Der Ruderverein muss einen eigenen Internetauftritt einrichten, mit "Facebook" werden insbesondere junge Menschen erreicht. In Abständen sorgen Printprodukte für eine Kommunikation, die alle Mitglieder erreicht; die alte Vereinszeitung ist noch nicht tot. Sie bietet zusätzlich die Chance, jemandem etwas Aufgeschriebenes in die Hand zu geben und nicht mit dem Hinweis agieren zu müssen, man könne ja einmal auf die Homepage schauen. Für die Führung eines Vereins spielt die funktionierende Kommunikation eine ganz entscheidende Rolle. Wie viele Probleme entstehen durch eine schlecht funktionierende oder gar nicht vorhandene Kommunikation.
Vereine kommen nicht umhin, ein Konzept zu entwickeln, das langfristig angelegt, systematisch geplant und kontinuierlich verfolgt dazu angelegt ist, Mitarbeiter zu gewinnen, zu qualifizieren und dauerhaft zu binden - dieses gilt für ehrenamtliche wie auch bezahlte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Der Deutsche Ruderverband hat vor einiger Zeit ein Konzept zur Gewinnung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Rudervereinen vorgelegt. Das Programm liegt als Broschüre zur "Personalentwicklung in Vereinen" vor.
Ein wesentliches Element spielt die Entwicklung von Qualitätsstandards für das Vereinsangebot, die allerdings einer regelmäßigen Ergebniskontrolle bedürfen - Qualitätsmanagement im Vereinsgeschehen, um am Markt bestehen zu können. Es ist nicht abwegig darüber nachzudenken, in einem Ruderverein einen Qualitätszirkel einzurichten, in dem einige Personen immer wieder gemeinsam das Vereinsgeschehen von außen prüfen und Anregungen zu eventuellen Korrekturen geben. Der Aufwand ist gering, der Effekt kann groß sein.
In den Sportvereinen besitzt die Gesellschaft ein unersetzliches Netzwerk der kultur-, sozial- und gesundheitspolitischen Selbsthilfe. Die Sportvereine sind die nicht austauschbare Grundlage des hochentwickelten deutschen Sportsystems. Es gilt, das Wirken der Vereine für die Zukunft zu sichern.
Dafür bilden die entsprechende Einschätzung durch die Gesellschaft, die zielgerichtete Förderung durch die öffentlichen Hände - bei aller Problematik der öffentlichen Haushalte - und die Bereitschaft zu ehrenamtlicher Mitarbeit wesentliche Voraussetzungen.
Das Selbstverständnis von Sportvereinen und damit auch Rudervereinen muss in der Zukunft stärker darauf ausgerichtet sein, dass sich jeder Verein bewusst ist, eine soziale Aufgabe in dieser sich stark wandelnden Gesellschaft übernommen zu haben.
Eine Übungsleiterin und ein Übungsleiter sind zusammen immer noch billiger als ein Sozialarbeiter und ein teurer Therapieplatz! Sportvereine sind gut positioniert, sie haben ihre Strukturen bereits vor Jahrzehnten angepasst und tun dieses laufend, um den neuen Aufgaben gerecht werden zu können.
Wie war das noch?: "Vereine verbleiben Jahrzehnte in ihren Strukturen." - Ich glaube das nicht und weiß, dass es so nicht ist.
Mit freundlicher Genehmigung der
Verbandszeitschrift Rudersport veröffentlicht.