04. Sep 2018 | Panorama | von thomas kosinski, rudersport

Martin Sauer im Interview

Martin Sauer erklärt, worauf es beim Steuern des Deutschland-Achters ankommt.

Martin Sauer steuert seit knapp 10 Jahren den Deutschland-Achter. Im Gespräch mit rudersport-Chefredakteur Thomas Kosinski erklärt der Olympiasieger von London, was einen guten Steuermann ausmacht, wie er ein Rennen angeht und warum der Abstand zu den anderen Nationen immer kleiner wird.

Herr Sauer, worauf kommt es an beim Steuermann an?
Zunächst einmal muss er das Boot lenken. Das ist nicht so schwer und das kann auch jeder lernen. Wer genügend Übung hat, denkt über das Lenken überhaupt nicht mehr nach. Das Wesentliche aber ist: Der Steuermann muss seine Mannschaft führen, und zwar immer und überall dort, wo die Mannschaft sich nicht selbst führen kann. Ich habe den Blick nach vorn, die Mannschaft nicht. Ich kann nach links und rechts gucken und beobachten, was der Gegner macht, die Mannschaft nicht. Ich habe die Sicht auf die Mannschaft und das Gefühl für das Boot, weil ich der einzige im Boot bin, der sich nicht selbst bewegt. Deshalb kann ich am besten spüren, wie die Mannschaft das Boot bewegt.

Wie weit geht dieses Bootsgefühl? Können Sie spüren, wenn auf Position drei etwas unrund läuft?
Zunächst hoffe ich, dass ich das an der Blattführung erkenne. Aber über die Jahre merkt man auch, wenn im Boot etwas nicht passt. Aus meiner eigenen Wahrnehmung, Videos und Fahrten im Trainerboot habe ich eine gute Vorstellung von der Bewegung jedes einzelnen, sodass ich mit dem Gefühl, das sich während der Fahrt einstellt, und dem Wissen, das ich habe, ein Problem lokalisieren und zuordnen kann. Als Steuermann muss ich wissen, wann ein Boot läuft und was ich tun muss, wenn es nicht läuft. Das unterscheidet den Steuermann auch vom Trainer, der die Mannschaft nur von außen beobachten kann.

Was tun Sie, wenn das Boot nicht läuft?
Mein wichtigstes Arbeitsgerät ist die Coxbox, über die ich mit der Mannschaft kommuniziere. Früher mussten Steuerleute in erster Linie leicht sein. Oft waren dies 14-jährige Bubis, die das Boot geradeaus lenken mussten und nichts vom Rudern verstanden. Die Akustik ließ damals einfach nur wenig zu. Die Rolle des Steuermanns hat sich durch den Einbau einer Lautsprecheranlage entscheidend geändert, weil ich mit der Mannschaft reden kann, ohne schreien zu müssen. Ein Steuermann gibt nicht nur Kommandos, sondern beeinflusst während der Fahrt die Mannschaft und strukturiert das Rennen. Ich verstehe meine Rolle deshalb auch nicht einfach als Takt- und Kommandogeber, sondern führe die Mannschaft und das Boot auf Grundlage dessen, was ich sehe, fühle und wie ich die Situation einschätze. Am Ende besteht meine Aufgabe darin, der Mannschaft Sekunden zu liefern, die uns vor den anderen ins Ziel bringen.

Woher nehmen Sie diese Sekunden? Einfach zu rufen: „Schneller!“ wird ja wohl nicht reichen?
Das wichtigste ist das Training. Dort kann ich in Abstimmung mit dem Trainer Technikübungen ansagen, die uns weiterbringen, oder bestimmte Belastungen fahren. Im Rennen selbst kann ich in bestimmten Situationen einen taktischen Zwischenspurt einlegen. Jede Mannschaft fühlt sich wohl, wenn sie vorne liegt, was aber nicht immer der Fall ist. Wichtig ist deshalb, dass die Mannschaft zu jedem Zeitpunkt weiß, wie der Stand des Rennens ist. Selbst im Rennen kann man noch einiges verändern, wenn Steuermann und Mannschaft gut eingespielt sind. Gute Athleten haben auch bei Schlagzahl 44 ihren Kopf frei, um vielleicht ein leichtes Nachschlagen zu korrigieren. Das funktioniert aber nur, wenn Vertrauen und Eingespieltheit da sind, andernfalls werden Ängste freigesetzt und am Ende geht alles schief. Aber so etwas kann man üben.

Wie wichtig ist das Zusammenspiel innerhalb der Mannschaft?
Individuelle technische Fehler und deren Korrektur bringen vielleicht Hundertstel Sekunden, denn die Jungs können natürlich alle rudern. Mangelndes Zusammenspiel innerhalb der Mannschaft kann Sekunden kosten. Hier liegt auch meine Hauptaufgabe: Den gemeinsamen Rhythmus herzustellen. Wenn mir da etwas auffällt, spreche ich das sofort an, um denjenigen in den Rhythmus zurückzuholen. Das kann man nicht im Rennen üben, sondern im Training und mit der Zeit. Ein Begriff wie guter Bootslauf ist auch ungenau. Aber wir machen jeden Tag nichts anderes. Wobei wir, um im Bild zu bleiben, das Boot nicht laufen lassen, sondern es gezielt und bewusst zum Laufen bringen. Allerdings: Nicht das Boot gewinnt, das am besten läuft, sondern jenes, das am schnellsten ist. Simpel ausgedrückt. Für mich läuft das Boot gut, wenn es schnell ist.

Wie gehen Sie ein Rennen an?
Das Rennen beginnt lange vor dem Startsignal. Wir treffen uns morgens zum Warmfahren. Als Steuermann kontrolliere ich dann noch einmal das Boot und sorge dafür, dass alles bereit ist. Direkt vor dem Rennen fahren wir uns ein, da achte ich darauf, dass wir beweglich sind und Rhythmus aufnehmen. Am Start schaue ich mir die Bahn noch einmal genau an, manche sind ja auch etwas schief, und ich studiere die Gegner. Das Rennen selbst läuft vom ersten bis zum letzten Schlag möglichst so ab, wie wir es im Training geübt und für das Rennen abgesprochen haben. Bei den ersten fünf Schlägen gucke ich nur auf uns, ob wir gut anschieben, die anderen Boote interessieren mich zu diesem Zeitpunkt nicht. Die Mannschaft hält ohnehin die Augen im Boot und versucht, es optimal zu bewegen. Meine Aufgabe ist, sie dabei zu unterstützen, indem ich Probleme erkenne, um schnell eingreifen zu können. Wenn ich zum Beispiel sage: „Gut zu Ende schieben“, dann wissen die Jungs, dass sie auf ihre Schlaglänge achten sollen. Wenn das Boot läuft, sage ich gar nichts und kontrolliere die Gegner. Wenn ein anderes Boot einen Zehner fährt, muss ich sofort reagieren können, sonst ist das Boot eine halbe Länge weg. Da verlässt sich die Mannschaft auch auf mich, dass ich das nicht verpasse.

Sie reagieren also situativ und nicht nach einem festen Plan?
Natürlich haben wir einen Plan und ein Ziel, aber im Rennen selbst weiß ich nicht, was passiert und muss spontan agieren und reagieren. In dem Moment, wo etwas passiert, muss ich entscheiden, wie wir damit umgehen. Diese Phase darf nicht längern dauern als ein, zwei Schläge. Ist der Angriff gefährlich, ziehen wir mit, bleiben wir ruhig? Die Antwort ist jedes Mal eine andere. Bei unserem Olympiasieg im London 2012 haben uns die Briten bei 1.000 Metern angegriffen und wollten uns moralisch in die Knie zwingen, damit wir am Ende nicht mehr hätten mithalten können. In dieser Situation wurde mir klar, dass die Entscheidung jetzt fällt. Wenn wir diesen Angriff abwehren, ist ihr Plan gescheitert. Wir haben dann voll dagegen gehalten und konnten die Briten auf Distanz halten. Damit war das Rennen gelaufen und wir konnten ungefährdet ins Ziel fahren.

Geht das immer gut?
Leider nicht. Bei den Olympischen Spielen in Rio haben wir die gegenteilige Erfahrung gemacht. Dort mussten wir unseren Plan ziemlich schnell ändern, als wir merkten, dass wir eine Länge hinter den Briten lagen. Ich habe in die Mannschaft hinein gehorcht und gespürt, dass wir die Kraft, die Briten einzuholen, nicht hätten aufbringen können. Wenn wir sinnlos dagegen angepowert hätten, wären wir am Ende eingebrochen und vielleicht fünfter geworden. Die anderen Boote kamen schon heran und ich habe deshalb entschieden, die Briten fahren zu lassen. Wir sind einen Zehner gefahren, um die Niederländer und Neuseeländer aus dem Feld zu schlagen, und haben unsere letzte Kraft für den Endspurt um Silber aufgespart. Ein bisschen hatten wir noch gehofft, dass die Briten sich übernommen hatten. Aber wir haben uns nur noch auf den zweiten Platz fokussiert. Für mich war das eine bittere Entscheidung, aber ich glaube, es war die richtige. An der 1000-Meter-Marke musste ich erkennen, dass wir nicht mehr vorne mitkämpfen.

Sind die Entscheidungen immer richtig?
Der Gegenbeweis lässt sich ja schlecht erbringen. Aber sicherlich gibt es manchmal Einwände: Ja, hättest du das doch anders angesagt, wäre ich anders gefahren, oder: Hätten wir den Endspurt doch früher begonnen. Manchmal schätzen sich die Athleten auch falsch ein. Ein früher Endspurt führt nicht zwangsläufig früher ins Ziel. Aufgrund meiner Erfahrung beginne ich den Spurt möglichst genau an dem Punkt, von dem ich überzeugt bin, dass die Mannschaft ihn bis ins Ziel durchhalten kann. Starte ich zu früh, bricht die Mannschaft ein, starte ich zu spät, verschenke ich Zeit. Am Ende gewinnt die Mannschaft, die sich technisch, taktisch und physisch am besten verhalten hat.

Was erwartet uns bei der kommenden WM?
Dieses Jahr drängen viele Nationen in den Achter, die Konkurrenz nimmt also zu. Mit den Ergebnissen von den Weltcups stehen wir gut da. Aber es wird richtig eng, das hat ja schon das Rennen in Linz und erst recht in Luzern gezeigt. Ich rechne damit, dass es bereits einen harten Kampf um die Finalplätze gibt. Zwischen Sieg und Platz fünf werden nur wenige Sekunden liegen. Wir haben eine gute und motivierte Mannschaft und werden versuchen, solange wie möglich vorn zu bleiben. Physisch sind uns andere Nationen allerdings schon deutlich überlegen.

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